Fortsetzungsroman von Silke S. Bischoff
Kapitel zehn
Dieter stand auf der Brücke, es war dunkel und der Wind wehte ihm ins Gesicht. Autos fuhren an ihm vorbei, aber Dieter bemerkte sie gar nicht. Er hatte seit vielen Stunden sein Handy in der Hand. War es das wert?, fragte er sich immer wieder. Tränen rannen über sein Gesicht. Er schaute auf seine Uhr. Ein schöner goldener Chronograph. Margot hatte sie ihm zum Hochzeitstag geschenkt. Dieter nahm die Uhr von seinem Handgelenk und warf sie in hohem Bogen in den Fluss.
Margot saß im Wohnzimmer und trank Rotwein. Eine Flasche hatte sie bereits geleert, die zweite stand geöffnet vor ihr. Jakob war längst in seinem Bett und schlief. Margot nahm ihr Handy aus ihrer Tasche. Warum hat Dieter sie angerufen? Und warum wollte er dann doch nicht sprechen?
Sie musste ihn sprechen.
Wenn ich jetzt springe, ist alles vorbei.
Dieter hatte diesen Gedanken schön häufiger. Die Arbeit, die zerrüttete Ehe – manchmal konnte er einfach nicht mehr. Nun stand er auf dieser Brücke, und unter ihm schoss das Wasser entlang.
Es ist sehr kalt, es würde nicht lange dauern, bis ich nichts mehr spüre.
»Was machen Sie denn? Sind Sie lebensmüde? Sie hätten sich umbringen können!« Der junge Polizist war entsetzt, als er hinter dem Steuer Margot erkannte. »Heiner, bitte, ich muss meinen Mann finden!« Margot konnte sich nicht mehr halten und weinte.
Wenige Stunden zuvor hatten Margot und der junge Beamte Heiner sich im Revier getroffen. Nun hielt er sie mit ihrem Golf an. »Margot, Sie fahren viel zu schnell und Sie haben getrunken. Was haben Sie vor? Wo wollen Sie hin?« Aber Margot konnte nichts mehr sagen.
Ich muss Dieter finden…
Dieter blickte ein letzes Mal auf sein Telefon. Warum ruft sie nicht an?, fragte er sich. Dann warf er es auch in die Tiefe und kletterte über die Brüstung. Nur ein Schritt trennte ihn nunmehr von seinem Vorhaben. Es war dunkel, und keiner würde es sehen.
Es ist besser für alle. Es ist besser so. Wirklich!
Heiner fuhr so schnell er konnte. Margot saß neben ihm auf dem Beifahrersitz und weinte. Heiner, seit erst drei Jahren im Dienst, ahnte, wo er Dieter finden könnte. Schon oft war in seiner kurzen Zeit als Polizist zur Theodor-Brücke gerufen worden. Immer wieder fanden dort Verzweifelte ihren Weg in den Freitod. Heiner beschleunigte und machte nun auch das Blaulicht an…
Dieter dachte ein letztes Mal an seine Kinder. Er zog seine Jacke aus und legte säuberlich seine Brieftasche darauf. So konnte er leicht identifiziert werden. Ich muss es den Behörden ja nicht schwerer machen, als es eh schon ist.
Heiner sah schon von weitem, dass tatsächlich jemand auf der Brücke stand, gefährlich nah am Abgrund. Er stellte das Blaulicht aus und fuhr auf die Brücke. »Dieter!«, schrie er.
Margot nahm eine Tasse Tee vom Tablett. Sie reichte es Dieter. Der kleine Jakob lag neben seinem Papa auf dem Bett im Krankenhaus und schlief. »Margot, ich war ein Idiot.« Margot schaute ihn lange an, bis sie antwortete. »Du bist und bleibst mein Mann.« Sie blickte zu Heiner, der auf einem Stuhl im Zimmer Platz genommen hatte. Er lächelte beide an und zitierte dann aus einem Gedicht von Gahrhusen.
„Wie Nadeln im Sturm – die Sehnsucht erwacht
Wie Nadeln im Sturm – bei Tag und bei Nacht
Wie Nadeln im Sturm – mein Herz gehört dir
Wie Nadeln im Sturm – jetzt bleibe ich hier.
Wie Nadeln im Sturm – kein Weg ist zu weit
Wie Nadeln im Sturm – ein Leben zu Zweit
Wie Nadeln im Sturm – die Erde, sie bebt
Wie Nadeln im Sturm – die Liebe, sie lebt
Wie Nadeln im Sturm – doch du hältst mich fest
Wie Nadeln im Sturm – mich niemals los lässt
Wie Nadeln im Sturm – nur noch du und ich
Wie Nadeln im Sturm – Oh, ich liebe dich!“
Dieter und Margot lachten. »Ein tolles Gedicht! Dieter, ich liebe dich.« Dieter nahm seine Margot verliebt in die Arme. »Ich dich auch, Margot. Ich liebe dich auch.«
~ENDE~
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